WS Raumdimension: Antragstext

Stand der Forschung

Fokus dieser Dimension ist der Zusammenhang von sozialem Handeln und Bedingungen und Kontexten, die durch Lokalitäten, Grenzen, physischlogistische Gegebenheiten und Vernetzungen entstehen (z. B. Livingstone 2005). Für diesen Zugang zentral ist Barton/Hamilton (1998). Die Autoren zeigen, dass Schreiben und Lesen als komplexe soziale Handlungen nicht von den handelnden Individuen und ihrer (kultur-)räumlichen Umgebung zu trennen sind. So werden kommunikative Akte, und damit auch Schreiben und Lesen, durch direkte und indirekte Regulationen als fördernde oder hindernde Governance-Strukturen, wie z. B. Zensur, Jugendschutz, Ressourcenzuteilung, Selbstkontrollen gesteuert (Hagenhoff 2016; Wagner 2015; Darnton 2014; Maase 2002), die immer raumbezogen entstehen, gelten und wirken. Auch der physisch-logistische Zugang zu Lesestoffen wird von räumlichen Parametern beeinflusst, wie z.B. der Dichte von Buchhandlungen, Zeitschriftenkiosken oder öffentlichen Bibliotheken oder dem Ausbau von Infrastruktur in Form von Straßen, ÖPNV oder Telekommunikationsnetzen (Hagenhoff 2015, S. 645). Räume sind, abhängig von der Intensität des öffentlichen Lebens, zudem divergent mit textbasierter Information ausgestattet (Fahrpläne, Werbeplakate, Straßenschilder, Schaufenster), so dass das beiläufige Lesen oder die Emergent Literacy (Whitehurst/Lonigan 1998) auch lokal differieren kann. In der Analyse der Omnipräsenz und der Divergenz der Omnipräsenz von Schriftzeichen im öffentlichen Raum liegt ein deutliches Desiderat der Leseforschung.

Gegenstand des Workshops

Der Workshop geht in erster Linie der Frage nach, inwiefern sich die komplexen sozialen Handlungen Schreiben und Lesen in einer Topographie und Praxeographie des städtischen Raums wiederfinden lassen. Ausgangspunkt ist die semantische Erweiterung von Schreiben und Lesen, die sich in vielen gängigen Formulierungen findet: etwa in der Rede von erinnerungskulturellen »Einschreibungen« in den Raum oder in einem semiologischen Verständnis von »Stadt als Text«. Analog zu Blumenbergs »Lesbarkeit der Welt« ist auch die »Lesbarkeit der Stadt« (Öhlschläger 2020) theoretisiert worden, was für eine breit angelegte interdisziplinäre Leseforschung anregende Fragen aufwirft.

Die Beiträge vermessen dieses Feld und erweitern die Perspektive auf das Lesen als Kulturtechnik: Was kann es bedeuten, eine Stadt oder einen Raum zu »lesen«“? Was sieht man eigentlich, wenn man einen Raum liest? Und welche konzeptionellen Rückschlüsse auf die Leseforschung lassen sich möglicherweise daraus ziehen? Im Anschluss an Konzepte der kulturwissenschaftlichen Stadt- und Raumforschung ergibt sich hier eine dreifache Perspektive: auf die Stadt als Ganzes, auf die Stadt als Ort der Zeichenproduktion und auf Materialisierungen bzw. Institutionalisierungen einer Topographie des Lesens. Alle drei Dimensionen sind ineinander verschränkt: So verweisen Versuchsanordnungen wie »Reading Berlin« (Fritzsche 1996) oder »München lesen« (Hirmer/Schellong 2008) stets auf Interferenzen zwischen der spezifischen Stadt als eines in sich »lesbaren« kulturellen Raumes und der Tatsache, dass Städte immer gewaltige Speicher von Texten sind: von archivierten und eingelagerten Texten, von Texten über die Stadt, von ephemeren Texten im öffentlichen Raum. Für Butor (2000, S. 169) ist eine Stadt eine »Anhäufung von Text«. In einer Stadt sind wir »begleitet, empfangen, verfolgt von Text« . Zudem wird deutlich, dass in urbanen Praktiken des Planens und Bauens immer auch Ordnungen des Lesens geschaffen werden. Archive, Literaturhäuser und gefeierte Bibliotheksneubauten wie etwa in Birmingham, Seattle, Stuttgart, Amsterdam oder Kopenhagen bilden Orte des Lesens, die zugleich einen urbanen Repräsentationsanspruch verraten. Und auch Veranstaltungen wie Lesefestivals sind Teil von Aushandlungsprozessen rund um Stadtkultur und »Kulturstädte«.

Thematisiert wird auch, wie sich das Lesen als Modus einer dezidiert räumlich organisierten Wirklichkeitserschließung fassen lässt: Im Lesen einer Stadt, eines Platzes oder auch einer Situation werden Zusammenhänge sichtbar, werden zirkulierende Bedeutungen in mehr oder weniger stabile Ordnungen überführt, werden Ordnungen auch wieder aufgelöst. Einen Raum zu lesen, kann auch bedeuten, Zeit und Raum zusammenzudenken: »Im Raume lesen wir die Zeit«, (Schlögel 2003). Thematisiert werden historische Referenzen auf Text(e), Schnittstellen zwischen Stadt und Text, Raummetaphoriken des Lesens. Expert*innen aus Stadtforschung, Stadtplanung und Architektur werden eingebunden, um der interdisziplinären Leseforschung weitere Impulse zu geben und das Netzwerk konstruktiv auszubauen.

Zitierte Literatur

  • Barton, David; Hamilton, Mary (1998): Local literacies. Reading and writing in one community. London.
  • Butor, Michel (2000): Die Stadt als Text, in: Ursula Keller (Hg.), Perspektiven metropolitaner Kultur, Frankfurt am Main, 169-178.
  • Darnton, Robert (2014): Censors at work. How states shaped literature. London.
  • Fritzsche, Peter (1996): Reading Berlin 1900. Cambridge.
  • Hagenhoff, Svenja (2016): Buch und Buchsachgruppen. In: Jan Krone und Tassilo Pellegrini (Hg.): Handbuch Medienökonomie. Berlin, 29 Seiten, Living Document.
  • Hagenhoff, Svenja (2015): Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre. In: Ursula Rautenberg und Ute Schneider (Hg.): Lesen – Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin, S. 617–645
  • Hirmer, Simone/Markus Schellong (Hg.) (2008): München lesen. Beobachtungen einer erzählten Stadt. Würzburg.
  • Öhlschläger, Claudia (Hg.) (2020): Urbane Kulturen und Räume intermedial. Zur Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive. Bielefeld.
  • Livingstone, David N. (2005): Science, Text and Space: Thoughts on the Geography of Reading. In: Transactions of the Institute of British Geographers 30 (4), S. 391–401.
  • Maase, Kaspar (2002): ‚Schundliteratur‘ und Jugendschutz im Ersten Weltkrieg – Eine Fallstudie zur Kommunikationskontrolle in Deutschland. In: kommunikation@gesellschaft 3 (Beitrag 3).
  • Schlögel, Karl (2003): Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München.
  • Siebenhüner, Steffen/ Depner, Simone/ Fässler, Dominik/ Kernen, Nora/ Bertschi-Kaufmann, Andrea, Böhme, Katrin/ Pieper, Irene (2019). Unterrichtstextauswahl und schülerseitige Leseinteressen in der Sekundarstufe I: Ergebnisse der binationalen Studie TAMoLi. Didaktik Deutsch, 47 (2019), S. 44-64.
  • Wagner, Eva Ellen (2015): Staatlich-rechtliche und politische Lenkungsprozesse des Lesens in der Gegenwart. In: Ursula Rautenberg und Ute Schneider (Hg.): Lesen – Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin, S. 509–528
  • Whitehurst, G./Lonigan, C. (1998). Child development and emergent literacy. Child Development, 69, 3, S. 848-872.Wirtz, Bernd W. (2019): Medien- und Internetmanagement. 10., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Berlin.
  • Zwaan, Rolf A. (1993): Aspects of Literary Comprehension. A Cognitive Approach. Amsterdam: Benjamins.