WS Sachdimension: Antragstext

Stand der Forschung

Die Sachdimension zielt ab auf die divergenten Lesegegenstände in Form von Textgattungen und -sorten (z. B. Schnotz 2008; Christmann/Groeben 2008), die materiellen Lesemedien, wie kodexförmige Artefakte aus physischen Beschreibstoffen oder elektronische Varianten (z. B. Delgado et al. 2018; Cavallo 1999) und die graphischen Zeichensysteme (z. B. Borinski/Gorbach 2019; de Jong 2015; Spitzmüller 2013). Es fällt auf, dass Lesen häufig mit dem Lesen von Büchern oder zumindest anderen ›intellektuellen‹ Medien wie z. B. Zeitungen gleichgesetzt wird. Dieses Lesen wird gar als ›richtiges‹ Lesen bezeichnet (hierzu die Interviews bei Kramer 1996; Wetzel 2002, S. 9, S. 15, S. 83f., S. 104; Wilke 2015, S. 40, oder begrifflich aktuell »Deep reading«, z.B. Wolf 2018) und vom alltäglichen Decodieren von Schriftzeichen abgekoppelt. Dies wiederum führt implizit zu einer Hierarchisierung der Begriffsebenen: »Wenn es eine Kultur des Lesens gibt […] dann wird damit schon deutlich, daß wir nicht schlechthin jedes Aufnehmen von Gedrucktem als Lesen be-zeichnen« (Hufen-Dürr et al. 1975, zitiert nach Wetzel 2002, S. 80). Lesen in dieser etablierten Sichtweise gilt als etwas Schwerfälliges, als Arbeit oder intellektuell Aufwändiges, was in der Lebenswelt etlicher Menschen keinen Platz hat und eher für Personen in Frage kommt, die Zeit und Engagement investieren können (Wetzel 2002, S. 14; Löffler 2005, S. 15; Bayer-Schur 2011, S. 261f.). Gleichzeitig wird diese Form des Lesens durch das potentielle Hervorrufen eines Flow-Erlebnisses aber auch als besonders glücksstimulierend interpretiert (stellvertretend Bellebaum 1996, Hinterberger 2020). Lesen als ggf. leichtgängige, beiläufige, selbstverständliche Alltags-praktik wird dagegen meist nicht als ›richtiges‹ Lesen konnotiert. Ebenfalls fehlt es deutlich an Untersuchungen zum »Pflichtlesen« (Begriff z. B. bei Graf 2004) im beruflichen oder lernbezogenen Kontext, als wenige Ausnahmen sind z. B. die Arbeiten von Balkenhol (2016) oder Keimes/Rexing (2015) zu nennen. Fundamentale Kritik an der konstatierten Verengung formulieren Kuhn/Hagenhoff (2017), die einen grundlegenden Paradigmenwechsel fordern von der objektorientierten (›Lesen von Büchern‹) zu einer an kommunikativen Belangen orientierten Leseforschung. Lesen wird in der Forschung weiterhin reduziert auf die Dekodierung von Schrift im enggeführten Verständnis von geschriebener oder gedruckter Sprache (z. B. Rautenberg 2015). Versteht man Lesen als kognitive Dekodierung eines kulturell vereinbarten Systems von statischen Zeichen, die in der Fläche angeordnet werden (Groß 1994, S. 3; Spitzmüller 2009; Hagenhoff 2016, 2017), so ist unerklärlich, warum statisch (-visuelle) Figurationen, die nicht als Buchstaben gelten, nicht auch gelesen werden und damit Gegenstand einer Leseforschung sein sollten. In diese Richtung gehen z. B. die Arbeiten von Dürscheid/Siever (2017) oder Herring/Dainas (2017) zu Emojis. Auch Kress/Van Leeuwen 1996, Jäger (2002) oder Schmitz (2007 und 2011) verdeutlichen, dass sich die differenzierte Aneignung der Welt nicht auf das Lesen-Können von Buchstaben beschränkt.

Gegenstand des Workshops

Theoretische Ausgangspunkte sind:

  1. Unterschiedliche Textsorten gehen mit unterschiedlichen Lesestrategien einher. Zwaan hat dafür das Konzept des textsortenspezifischen kognitiven Kontrollsystems eingeführt: “For each (frequently encountered) text type, proficient readers have developed a particular cognitive control system, which guides their comprehension efforts“ (Zwaan 1993, S. 2). Rosebrock weist darauf hin, dass etwa Leseakte in einer literarischen Lesehaltung „im Vergleich mit solchen in einer informatorischen Lesehaltung deutlich langsamer vollzogen [werden] und sie bewirken eine vergleichsweise bessere Erinnerung an wörtliche Informationen“ (Rosebrock 2018, S. 19).
  2. Doch nicht nur die jeweilige Textsorte lässt bestimmte Lesepraktiken aktualisieren, sondern auch die Lesemedien legen spezifische Lektüre- und Verarbeitungsweisen von Texten nahe. Das bedeutet nicht, dass digitale Medien zwangsläufig zu weniger Aufmerksamkeit führen würden, aber sie machen es einfacher bzw. animieren dazu Texte mit einer anderen Rezeptionshaltung zu begegnen, als wir das im Umgang mit Printmedien gelernt haben (vgl. Baron 2016 und 2017).

Ausgehend von diesen theoretischen Prämissen soll im Workshop das Lesen mit digitalen Me-dien in möglichst großer Breite und Vielfalt untersucht und diskutiert werden. Dabei soll es neben den viel besprochenen E-Books auch um Nachrichtenseiten und digitale Schulbücher, um Fan-fiction, Whatsapp-Nachrichten, Blogs und Twitternachrichten sowie um die Bild-Text-Kombinationen auf Medien wie TikTok und Instagram gehen. Im Zentrum sollen dabei Fragen nach den jeweiligen medien- und textsortenspezifischen Lesehaltungen und –strategien, den Lesepraktiken und –prozessen sowie deren Wechselwirkungen stehen.

Workshop-Leitung

Zitierte Literatur

  • Balkenhol, Aileen (2016): Lesen in beruflichen Handlungskontexten. Dissertation. Darmstadt.
  • Baron, Naomi S. (2016): Words Onscreen. The Fate of Reading in a Digital World. Oxford.
  • Baron, Naomi S. (2017): Reading in a digital age. Phi Delta Kappan 99 (2) , S. 15-20.
  • Bayer-Schur, Barbara (2011): Das Buch im Buch. Göttingen.
  • Bellebaum, Alfred (Hg.) (1996):  Leseglück. Eine vergessene Erfahrung? Opladen.
  • Borinski, Ulrike; Gorbach, Rudolf Paulus (Hg.) (2019): Lesbar. Typografie in der Wissensvermittlung. Zürich.
  • Cavallo, Guglielmo (1999): Vom Volumen zum Kodex. Lesen in der römischen Welt. In: Roger Chartier und Guglielmo Cavallo (Hg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt/Main, New York, Paris, S. 97–134.
  • Christmann, Ursula; Groeben, Norbert (2008): Die Rezeption schriftlicher Texte. In: Hartmut Günther und Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung = Writing and its use: an interdisciplinary handbook of international research. Berlin, S. 1536–1545.
  • Delgado, Pablo; Vargas, Cristina; Ackerman, Rakefet; Salmerón, Ladislao (2018): Don’t throw away your printed books: A meta-analysis on the effects of reading media on reading comprehension. In: Educational Research Review 25, S. 23–38.
  • Dürscheid, Christa; Siever, Christina Margrit (2017): Jenseits des Alphabets – Kommunikation mit Emojis 45, S. 256–285.
  • Graf, Werner (2004): Der Sinn des Lesens. Modi der literarischen Rezeptionskompetenz. Münster.
  • Gross, Sabine (2001): Das Buch in der Hand. Zum situativ-affektiven Umgang mit Texten. In: Stiftung Lesen (Hg.): Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend. Eine Studie der Stiftung Lesen, 175-197. Mainz, Hamburg.
  • Hagenhoff, Svenja (2016): Buch und Buchsachgruppen. In: Jan Krone und Tassilo Pellegrini (Hg.): Handbuch Medienökonomie. Berlin, 29 Seiten, Living Document.
  • Hagenhoff, Svenja (2017): Medieninnovationen und Medienrevolutionen: Von Gutenberg zu Berners Lee. In: Jan Krone und Tassilo Pellegrini (Hg.): Handbuch Medienökonomie. Berlin, 24 Seiten, Living Document.
  • Herring, Susan; Dainas, Ashley (2017): “Nice picture comment!” Graphicons in Facebook comment threads, S. 2185–2194.
  • Hinterberger, Monika (2020): Eine Spur von Glück. Lesende Frauen in der Geschichte. Göttingen.
  • Hufen-Dürr, Heidi; Glotz, Peter; Lattmann, Peter; Muth, Ludwig; Steinberg, Heinz; Martin, Albrecht; Bismarck, Klaus von (1975): Lesen und Leben. Protokoll eines Podiumsgesprächs. (1975), Nr. 58, S. 951-957, 960-965/968.
  • Jäger, Ludwig (2002): Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik. In: Ludwig Jäger und Georg Stanitzek (Hg.): Transkribieren. Medien/Lektüre. München, S. 19–41.
  • Jong, Ralf de (2015): Typografische Textgestaltung: lesbar und unlesbar; sichtbar und unsichtbar. In: Hans-Christian von Herrmann und Jeannie Moser (Hg.): Lesen. Ein Handapparat. Frankfurt (am Main), S. 7–17.
  • Keimes, Christina; Rexing, Volker (2015): Die Relevanz von Lesekompetenz in Bauberufen – Ansatzpunkte für eine berufsbezogene Leseförderung. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (6 (Lernen für die digitale Wirtschaft)), S. 54–57.
  • Kramer, Susanne (1996): Lesen im Alltag. Persönliche Mitteilungen über Erlebnisse und Erfahrungen mit Literatur. Diss. Universität Hamburg.
  • Kress, G., & Van Leeuwen, T. (1996). Reading images. The grammar of visual design. New York.
  • Kuhn, Axel; Hagenhoff, Svenja (2017): Kommunikative statt objektzentrierte Gestaltung: Zur Notwendigkeit veränderter Lesekonzepte und Leseforschung für digitale Lesemedien. In: Sebastian Böck, Julian Ingelmann, Kai Matuszkiewicz und Friederike Schruhl (Hg.): Lesen X.0. Rezeptionsprozesse in der digitalen Gegenwart. Göttingen, S. 27-45.
  • Löffler, Sigrid (2005): Entspanne dich. Sammle dich. Nimm und lies! In: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen (10), S. 8–17.
  • Rautenberg, Ursula (2015): Schrift. In: Ursula Rautenberg (Hg.): Reclams Sachlexikon des Buches. 3., verbesserte Auflage. Stuttgart.
  • Rosebrock, Cornelia (2018): Strategien ästhetischen Lesens. Literarisches Lernen in rezeptionsästhetischer Perspektive. In: Daniel Scherf, Andrea Bertschi-Kaufmann (Hrsg.): Ästhetische Rezeptionsprozesse in didaktischer Perspektive. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2018, S.14-27.
  • Schmitz, Ulrich (2007): Sehlesen. Text-Bild-Gestalten in massenmedialer Kommunikation. In: Kersten Sven Roth und Jürgen Spitzmüller (Hg.): Textdesign und Textwirkung in der massenmedialen Kommunikation. Konstanz, S. 93–108.
  • Schmitz, Ulrich (2011): Sehflächenforschung. Eine Einführung. In: Hajo Diekmannshenke, Michael Klemm und Hartmut Stöckl (Hg.): Bildlinguistik: Theorien – Methoden – Fallbeispiele. Berlin, S. 23–42.
  • Schnotz, Wolfgang (2008): Lesen als Textverarbeitung. In: Hartmut Günther und Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung = Writing and its use : an interdisciplinary handbook of international research. Berlin, S. 972–982.
  • Spitzmüller, Jürgen (2009): Typografisches Wissen. Die Oberfläche als semiotische Ressource. In: Angelika Linke und Helmuth Feilke (Hg.): Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt. Tübingen, S. 459–486.
  • Spitzmüller, Jürgen (2013): Graphische Variation als soziale Praxis. Eine soziolinguistische Theorie skripturaler „Sichtbarheit“. Berlin.
  • Wetzel, Dirk (2002): Die Konstruktion von Lesekultur im westdeutschen Buchhandel und öffentlichen Bibliothekswesen der Nachkriegszeit 1950 – 1989. Berlin.
  • Wilke, Julia (2015): Literacy und geistige Behinderung. Wiesbaden.
  • Wolf, Maryanne; Stoodley, Catherine (2018): Reader, come home. The reading brain in a digital world. New York.
  • Zwaan, Rolf A. (1993): Aspects of Literary Comprehension. A Cognitive Approach. Amsterdam: Benjamins.