WS Sozialdimension: Antragstext

Stand der Forschung

Die Sozialdimension zielt einerseits auf sozial bedingte Differenzen in Lesekompetenzen und den Zugangsmöglichkeiten zu Lesemedien und Mediennutzung sowie andererseits auf soziale Distinktionsprozesse durch Mediennutzung und Leseverhalten. Instanzen, Prozesse und Modelle zur Lesesozialisation von Kindern und Erwachsenen gehören ebenso zur sozialen Dimension wie die politischen Implikationen, die durch verminderte Lesekompetenzen zum Tragen kommen (Bonfadelli 2015c). Zu den Instanzen der Lesesozialisation gehören die Familie, die für den Erwerb der Lesekompetenz und die Prägung von Leseverhaltung hohe Bedeutung hat, die Schule oder die Peergroups und soziale Netzwerke. Valide Forschungen zur Lesesozialisation über die Lebensspanne, über alle Alterskohorten hinweg, sind mittlerweile völlig veraltet und fokussieren den angelsächsischen Raum (Himmelweit/Swift 1976; Peppers 1976; Smith 1993) und wurden schon von Bonfadelli et al. (1993, S. 221) angemahnt. Der stark print- und literaturgeprägte Lesebegriff ist angesichts des beträchtlichen Anteils von Menschen mit unzureichenden Lesekompetenzen unter Kindern, Jugendlichen und in der erwachsenen Bevölkerung (Stanat u. a. 2017; Reiß u. a. 2019; Rammstedt 2013; Grotlüschen/Buddeberg 2020) geradezu kontraproduktiv, weil er den Erwerb von Lesekompetenz einer bildungsprivilegierten und kulturaffinen Bevölkerungsschicht vorzubehalten scheint (Ehmig/Heymann/Seelmann 2015). Für Personen mit eingeschränkter Lesefähigkeit rückt das Lesen als erstrebenswerte Praxis mit den genannten Zuschreibungen von den eigenen Lebenswelten so weit weg, dass eine Nutzung auch einfacher Texte angesichts der hohen Anforderungen obsolet scheint (Assimilations-Kontrast-Effekt). Selbstvergewisserung, soziale Distinktion und Identitätsstiftung durch Leseverhalten sind nicht ausschließlich auf der individuellen Ebene zu analysieren, sondern finden ihren Ausdruck auch in kollektiven konsen-sualen oder kontroversen Aushandlungsprozessen, was direkt auf die soziale Funktion »Anschlusskommunikation« verweist (z. B. Sutter 2009; Brendel-Perpina 2018 und 2019; Schneider 2018a und 2018b).

Gegenstand des Workshops

Der Workshop fokussiert die soziale Ebene nach dem didaktisch orientierten Mehrebenenmodell von Lesekompetenz (vgl. Rosebrock/Nix 2015, S. 15ff.), also diejenige Dimension, die die Lese-situation formatiert und damit die Lesefähigkeit und Lesebereitschaft grundiert. Die soziale Dimension wird als Erfahrungsdimension des Lesens verstanden, welche in Abgrenzung zum Workshop Zeitdimension die sozialen Situationen und Interaktionen, in die Lesefähigkeit und -neigung eingebunden sind, fokussiert: Von den Anfängen der Lesesozialisation beim Vorlesen in der Familie während der frühen Kindheit über die kommunikative Einbindung von Freizeitlektüre-Praktiken unter Peers bis hin zu digitalen Social Reading-Aktivitäten von LeserInnen im Web 2.0. Neben die informellen Austauschprozesse von Anschlusskommunikation, deren motivationssteigernde Wirkung auf die Leseneigung die Leseforschung herausgestellt hat, tritt die lesebezogene Kommunikation des Literatur-unterrichts, dessen Vermittlungspraktiken jedoch kaum als Anregungsfaktor für das Freizeitlesen von Jugendlichen fungieren (vgl. dazu die Ergebnisse der TAMoLi-Studie, Siebenhüner et al. 2019). Insbesondere bei SchülerInnen aus schriftfernen Lebenswelten ist die Distanz zu schulischen Lesestoffen und zum schulischen Lesen insgesamt erheblich (vgl. Pieper/Rosebrock et al. 2004). Hinzu kommen genderbedingte Exklusionsbarrie-ren, die Jungen als weniger leseaffin und -kompetent ausweisen (vgl. Garbe 2007 und 2019; Bertschi-Kaufmann/Plangger 2018). Trotz der großen Bedeutung der Anschlusskommunikation (auch für den schulischen Unterricht) fehlt eine systematische Beschreibung ihrer Merkmale, Entwicklungsstufen und Qualitätskriterien (vgl. Rieckmann 2018, S. 131). Daher wird die Systematisierung von anschlusskommunikativem Handeln in den ver-schiedenen Instanzen und Prozessen der Lesesozialisation ein Ziel des Workshops sein.

Darüber hinaus soll die Anschlussfähigkeit der Leseforschung und -didaktik an die New Literacy Studies (NLS) theoretisch fundiert und weiterentwickelt werden. Die NLS verstehen Lesen als literale Praxis und als soziales und situiertes Handeln. Im Sinn eines Konzepts von Doing Reading existiert eine enge Verknüpfung der literalen Praxis mit der Identitätsarbeit der LeserInnen im Kontext ihrer Lebenswelten, wobei Lesen (und Schreiben) je nach Kontexten, Funktionen und Zielen sehr unterschiedlich sein können. Ein impliziter Lesebegriff von ‚richtigem Lesen‘ und einer normativen Idee von Lesekultur (vgl. Pieper/Rosebrock et al. 2004) führt dazu, dass Jugendliche nur einen Bruchteil ihrer literalen Praxis als Literalität wahrnehmen (vgl. Wiesner 2014). In diesem Kontext sollen Funktion und Modalitäten von Anschluss-kommunikation sowohl in non-formalen Settings der Leseförderung wie Leseclubs (vgl. das BMBF-Projekt Kultur macht stark – Bündnisse für Bildung: www.leseclubs.de sowie Brendel-Perpina/ Stumpf 2013) ebenso wie hinsichtlich literaturbezogener kollektiver Praktiken in analogen Kontexten (Literaturkreise, Buchgruppen) und in digitalen Umgebungen (von Kommunikationen auf Plattformen bis zu Booktube und Bookstagram vgl. Knipp 2017; Schneider 2019; Brendel-Perpina 2018 und 2019) auf ihre Wertzuschreibungen und das in den sozialen Inszenierungen vermittelte Leseverhalten situiert, erforscht und reflektiert werden.

Um die spezifisch fachdidaktische Komponente des Workshops zu konturieren, wird die Zielperspektive von Lesekompetenz als Fähigkeit zur gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe in der Kultur der Digitalität besonders fokussiert. Dazu soll durch eine Keynote zentral an das Konzept der Partizipationskultur nach Jenkins (2007 und 2013) angeknüpft werden.

Zitierte Literatur

  • Bertschi-Kaufmann, Andrea/ Plangger, Natalie (2018): Gender und Lesen. In: Honold, Alexander & Parr, Rolf (Hrsg.) Handbuch Lesen. Berlin, S. 549-563.
  • Bonfadelli, Heinz (2015c): Politische Implikationen des Lesens. In: Ursula Rautenberg/Ute Schneider (Hrsg.), Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2015, S. 815-831,
  • Bonfadelli Heinz / Fritz, Angela / Köcher, Renate / Saxer, Ulrich (1993): Lesesozialisation. Bd. 2: Leseerfahrungen und Lesekarrieren. Gütersloh.Rammstedt, Beatrice (Hg.) (2013): Grundlegende Kompetenzen Erwachsener im internationalen Vergleich Ergebnisse von PIAAC 2012. Münster u. a.
  • Brendel-Perpina, Ina: Literarische Wertung als kulturelle Praxis. Kritik, Urteilsbildung und die digitalen Medien im Deutschunterricht. Bamberg 2019.
    Brendel-Perpina, Ina: Was (jugendliche) BuchbloggerInnen bewegt: Funktionen und Formate digitaler Anschlusskommunikation. In: Anders, Petra/ Wieler, Petra (Hg.): Literalität und Partizipation. Reden, Schreiben, Gestalten in und zu Medien. Tübingen 2018, S. 63-82.
  • Brendel-Perpina, Ina/ Stumpf, Felix (2013): Leseförderung durch Teilhabe. Die Jugendjury zum Deutschen Jugendliteraturpreis. München.
  • Ehmig, Simone C.; Heymann, Lukas; Seelmann, Carolin (2015): Alphabetisierung und Grundbildung am Arbeitsplatz. Sichtweisen im beruflichen Umfeld. Mainz.
  • Garbe, Christine (2019): Gender und Genre: Gender-sensible Leseförderung und attraktive Genre der Kinder- und Jugendliteratur. In: Garbe, Christine/ Gürth, Christina et al. (Hg.): Attraktive Lesestoffe (nicht nur) für Jungen. Erzählmuster und Beispielanalysen zu populärer Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler, S. 1-34.
  • Garbe, Christine (2007): Lesen – Sozialisation – Geschlecht. Geschlechterdifferenzierende Leseforschung und -förderung. In: Bertschi-Kaufmann, Andrea (Hg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. Grundlagen, Modelle, Materialien. Seelze/ Zug, S. 66- 82.
  • Grotlüschen, Anke; Buddeberg, Klaus (Hg.) (2020): LEO 2018. Leben mit geringer Literalität. Bielefeld.
  • Himmelweit, Hilde/Swift, Betty (1976): Continuities and Discontinuities in Media Usage and Taste: A Longitudinal Study. In: Journal of Social Issues 34/4, S. 133-156.
  • Hirmer, Simone/Markus Schellong (Hg.) (2008): München lesen. Beobachtungen einer erzählten Stadt. Würzburg.
  • Jenkins, Henry (2009): Confronting the Challenges of Participatory Culture: Media Education for the 21st Century. Massachusetts.
  • Jenkins, Henry (2013): Reading in a Participatory Culture: Remixing Moby-Dick for the English Literature Classroom. New York.
  • Knipp, Raphaela (2017): Gemeinsam lesen. Zur Kollektivität des Lesens in analogen und digitalen Kontexten. In: Böck, Sebastian, Ingelmann, Julian et al. (Hg.): Lesen X.0. Rezeptionsprozesse in der digitalen Gegenwart. Göttingen, S. 171-190.
  • Peppers, Laura G. (1976): Patterns of Leisure and Adjustment to Retirement. In: The Gerontologist 16(5), S. 441-446.
  • Pieper, Irene/ Rosebrock, Cornelia/ Wirthwein, Heike/ Volz, Steffen (2004): Lesesozialisation in schriftfernen Lebenswelten. Lektüre und Mediengebrauch von HauptschülerInnen. Weinheim/ München.
  • Rieckmann, Carola (2018): Grundlagen der Lesedidaktik. Band 2: Eigenständiges Lesen. 2. Aufl. Baltmannsweiler.
  • Rosebrock, Cornelia (2018): Strategien ästhetischen Lesens. Literarisches Lernen in rezeptionsästhetischer Perspektive. In: Daniel Scherf, Andrea Bertschi-Kaufmann (Hrsg.): Ästhetische Rezeptionsprozesse in didaktischer Perspektive. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2018, S.14-27.
  • Rosebrock, Cornelia/ Nix, Daniel (2015): Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. 7. Aufl. Baltmannsweiler.
  • Schneider, Ute (2019): Facettenreich und unverzichtbar. Die multiplen Leistungen und Funktionen der Kulturtechnik Lesen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (12), S. 9–14.
  • Schneider, Ute (2018a): Bücher zeigen und Leseatmosphären inszenieren – vom Habitus enthusiastischer Leserinnen und Leser. In: Carlos Spoerhase / Steffen Martus (Hg.): Gelesene Literatur. Sonderband Text + Kritik, S. 111-120.
    Schneider, Ute (2018b): The Social Dimension of the Printed Book as a Medium. In: TXT – The Book Issue: Social symbolism. Leiden, S. 119-126.
  • Siebenhüner, Steffen/ Depner, Simone/ Fässler, Dominik/ Kernen, Nora/ Bertschi-Kaufmann, Andrea, Böhme, Katrin/ Pieper, Irene (2019). Unterrichtstextauswahl und schülerseitige Leseinteressen in der Sekundarstufe I: Ergebnisse der binationalen Studie TAMoLi. Didaktik Deutsch, 47 (2019), S. 44-64.
  • Reiss, Kristina u. a. (Hg.) (2019): PISA 2018 Grundbildung im internationalen Vergleich. Münster u. a.
  • Smith, Cecil M. (1993): Change in Reading Ability and Attitudes from Childhood to Adulthood: A Life Span Perspective. In: Smith, Cecil M. / Yussen, Steven R. (ed.): Reading across the Life Span. New York, S. 273-291.
  • Stanat, Petra u. a. (Hg.) (2017): IQB-Bildungstrend 2016. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Münster u. a.
  • Sutter, Tilmann (2009): Anschlusskommunikation und die kommunikative Verarbeitung von Medienangeboten. In: Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Hrsg. von Norbert Groeben und Bettina Hurrelmann. 3. Auflage. Weinheim, München, S. 80-105
  • Wiesner, Esther (2014): Diskursiv-narrative literale Identitäten von Jugendlichen. Eine gesprächsanalytische Untersuchung von Positionierungen. Weinheim/ Basel.